Der tagträumerische Tanz über die Milchstraße Wo Moderne und Vergangenheit mit urgewaltiger Kraft aufeinandertreffen, wo Raum und Zeit aus ihren tradierten Bahnen schäumen und Grenzen zu sanft mäandernden Wogen zerfließen, dort ist die Sphäre Qntals. Ein sich stets wandelndes Refugium, oszillierend, schillernd und geheimnisvoll. Und aus seinem pulsierenden Innern gebiert es mit „Time Stands Still“ ein neues Werk, das neunte Album in seiner über dreißigjährigen Geschichte.
Qntal ist der avantgardistische Kosmos zweier Ausnahmekünstler, die 1991 zusammenfanden, um mittelalterliches Lied- und Wortgut mit elektronischen Klangkonstruktionen und einem historischen Instrumentarium zu beseelen – eine wegweisende Fusion aus Gegenwart und Historie. Mezzosopranistin Syrah und Komponist und Multiinstrumentalist Michael Popp schufen ein innovatives Akustikamalgam jenseits gängiger Hörgewohnheiten, ein autarkes Genre, das so viel mehr ist als ein Gottfried von Straßburg auf Jean-Michel Jarre oder ein Kraftwerk’scher Wolfram von Eschenbach. Und auch mit der traditionell als „IX“ betitelten Scheibe, die den treffenden Untertitel „Time Stands Still“ trägt, dringen Qntal im Jahr 2022 mühelos schwebend in neue Universen und Zeitalter vor, von feinsinniger Neugier getrieben. So fügen sich die elf Tracks aus altbekannten Wegbegleitern des 12. Jahrhunderts wie dem Epiker Hartmann von Aue, Minnesänger Heinrich von Morungen und Lyriker Walther von der Vogelweide zusammen, die mit Versen des japanischen Poeten Saigy? (12. Jahrhundert), irischen Gedichten aus dem 8. Jahrhundert oder William Wordsworths romantischer Ode an die Narzissen „I Wandered Lonely As A Cloud“ aus dem frühen 19. Jahrhundert verwoben werden. Auch der Gründervater der Trobadorlyrik, Wilhelm IX. von Aquitanien wartet mit einer Gastrolle auf.
Jede dieser zauberhaften Strophen, jedes einzelne hinreißende Wort und jede wohlklingende Silbe dieser längst verblichenen Urheber wird auf feinfühlige und harmonische Weise in neu ersonnene bandeigene Kompositionen eingebettet. Beständig den wallenden Emotionen der Lyrik gehorchend. Verträumt, melancholisch, andächtig auf der einen überwiegenden Seite, aber auch beschwingt, brandend und treibend auf der anderen.
Kunstfertige und originelle Neuinterpretationen sind die Essenz Qntal’schen Wirkens. So überrascht es kaum, dass auch ein Hit aus den revolutionären 1970ern seine einzigartige Renaissance auf „Time Stands Still“ erlebt. Der Blue-Öyster-Cult-Klassiker „(Don’t Fear) The Reaper“, so führt Michael Popp aus, „ist ein vom Text her durch und durch depressiver, melancholischer Song“. Dieser Sichtweise folgend, verwandelte das Duo die Up-TempoNummer der amerikanischen Rocker in ein schwerblütiges und seelenwundes Trauerklagen – abermals den Worten des Songs gehorchend.
Beim Titelsong „Time Stands Still“ greifen Michael Popp und Syrah ausnahmsweise auf eine überlieferte Melodie zurück, verschmelzen diese mit einer anonymen Ode an die Liebe. Der englische Lautenist und Komponist John Dowland erschuf das Stück bereits im 16.
Jahrhundert – Qntal weben daraus eine zeitlose Ballade, deren entferntes Ticken sich in den Nebeln der Ewigkeit verliert … „Die Melodie von Dowland ist ein Traum, leicht schwebend – so wie ich sie interpretiert habe – sicher nicht klassisch wie eine Opernarie, sondern fein, klar, nachdenklich, Ausdruck der Verlangsamung“, reflektiert Syrah die Wahl des Songs.„Dowland hat insgesamt für unseren Werdegang einen großen Einfluss. Seine Musik begleitet uns von Anfang unseres Musikerdaseins an.“ Kein Wunder also, dass der Brite bereits 2005 auf der Platte „IV – Ozymandias“ mit dem Song „Flow (My Tears)“ von Qntal gewürdigt wurde. „Time Stands Still“, so führt Syrah aus, war überdies von Beginn der Produktion an der passende Titel für die „IX“, für eine Schöpfung, die inmitten einer „zurückgefahrenen Zeit“ entstand. „Das war die grundlegende Stimmung“, setzt Meister Popp an. „Auf der anderen Seite waren die Monate der Corona-bedingten Lockdowns geprägt von einer intensiveren Wahrnehmung. Ich kann mich beispielsweise an die Stunden in meinem Studio viel besser erinnern, an die Stille, den Mangel an Betriebsamkeit. Ich habe mich intensiv mit indischer Musik befasst – und irgendwie vermisse ich das.“ Tatsächlich sind seit der vorherigen CD „VIII – Nachtblume“ (2018) volle vier Jahre ins Land gegangen. „Unser Album hat einfach länger gedauert, weil kein Zeitdruck bestand, weil überhaupt die Zeit langsamer vergangen ist, davon bin ich fest überzeugt.“ Nicht von der Hand zu weisen ist auch der Umstand, dass das duale Gespann mit Estampie und Vocame noch in zwei weiteren Projekten involviert ist und Michael Popp obendrein an der Filmmusik für „Nicht ganz koscher“ mitgewirkt hat.
Tatsächlich sind diese vier zurückliegenden Jahre essentiell für die Entstehung von „Time Stands Still“. Zeit für Recherchen, Neuentdeckungen und Neuausrichtungen. So konnte ohne jegliche Eile eine Reihe von Gastkünstlern für die „IX“ ausgewählt und gewonnen werden.
Naara verstärkt künftig das Live-Line-up Qntals und steuert zur Scheibe eine mongolische Pferdekopfgeige und markigen Ober- und Untertongesang bei. Auch Gerlinde Sämann von Vocame, die schon bei Estampie oder Helium Vola ihren leuchtenden Sopran erklingen ließ, bereichert das Album. Selbst Phil Groth, der das Duo über viele Jahre hinweg kreativ begleitete, leiht Qntal wieder sein Gespür für betörende Synthieschwelgereien. Den größten Einfluss hat jedoch Christian Käufl alias El Conde, der den vorherigen Elektroniker und Produzenten Leon Rodt ablöst. „Im Grunde genommen ist er ein uralter Weggefährte, noch aus Deine Lakaien-Zeiten“, stellt Michael Popp den neuen Mann an den Reglern und SynthieTasten vor. „Als ich in den 90er-Jahren bei den Lakaien gespielt habe, war er mein GitarrenRoadie. Er hat später mit Alexander Veljanov dessen erstes Solo-Album als Gitarrist und Sänger gemacht. Dann war er über lange Zeit Live-Mischer von Qntal und er kennt die Musik Qntals von den Anfängen an.“ Legte Leon Rodt den Schwerpunkt auf eine eingängige und pointierte Produktion, lässt El Conde den einzelnen Songs mehr Raum zur Vielfältigkeit und emotionalen Entfaltung. Die Elektronik kommt expressiver und experimenteller zum Einsatz, spielerisch umwoben von akustischen Tonwerkzeugen, was der „IX“ mehr Facettenreichtum und Tiefgang beschert. Wie ein tagträumerischer Tanz über die Milchstraße.
„Time Stands Still“ verströmt mit jeder einzelnen Note den ursprünglichen Geist Qntals, ohne jemals repetitiv zu sein. Auch nach mehr als drei Dekaden des Musikschaffens bleibt das Duo die Antithese des kreativen Stillstandes. Und in einer Welt, in der sich das Rad der Zeit immer schneller und erbarmungsloser zu drehen scheint, ist „IX“ nicht nur eine virtuose Entschleunigung, sondern ebenfalls ein heilsamer Gegenentwurf – ein Schutzort der inneren Einkehr und Reflektion. „Ich hoffe sehr, dass Qntal auf ewig eine Antithese bleibt“, sinniert der vielseitige Komponist abschließend. „Der Mainstream fließt woanders.“